RHEINHESSEN . Wenn Klaus Sandrock im Supermarkt an der Kasse steht und in der Schlange darauf wartet, dass er drankommt, kann es passieren, dass ihm jemand von hinten auf die Schulter tippt. Und dass der dann sagt: „Sie sind doch der Mann, der vor ein paar Monaten bei uns war, nachdem die Oma gestorben war. Gut, dass Sie da waren.“ Klaus Sandrock lächelt dann und freut sich – er hat helfen können damals, als diese Familie Hilfe brauchte.
Es ist seine Berufung: Da zu sein, wenn er gebraucht wird. Ein tragischer Unfall. Eine schwere Erkrankung. Der Suizid eines Angehörigen – wenn Menschen in Not geraten, ist Klaus Sandrock zur Stelle. Seit 50 Jahren engagiert sich der Nackenheimer ehrenamtlich im Rettungsdienst. Und als ob das nicht schon genug wäre, ist er zusätzlich seit über 20 Jahren in der Notfallseelsorge im Einsatz.
Mittlerweile ist Klaus Sandrock 71 Jahre alt – und eilt immer noch zu Betroffenen, wenn der Alarm losgeht. Sowohl im Rettungsdienst als auch in der Notfallseelsorge sind Einsätze nie planbar. „Man weiß nicht, wann sie kommen, und man weiß nicht, was einen erwartet“, sagt Sandrock. Von Nackenheim aus fährt er seine Einsätze – als „First Responder“ zu medizinischen Notfällen, um bis zum Eintreffen des Regel-Rettungsdienstes professionelle Hilfe zu leisten, und als Notfallseelsorger, wenn Menschen in Ausnahmesituationen geraten sind, oft wegen eines Todesfalls.
Klaus Sandrock war 20 Jahre jung, als er sich mit dem „Helfer-Virus“ infizierte – so ganz beabsichtigt war das nicht, als der damalige Abiturient vor einem halben Jahrhundert seinen Zivildienst in Wiesbaden begann. Es verschlug ihn zum Rettungsdienst. „Anfangs war ich skeptisch, ich wusste ja nicht, ob ich Blut sehen kann“, erinnert sich Sandrock lächelnd. Doch der Anblick von Blut und anderen Körperflüssigkeiten – es gibt wenig, das Rettungskräften erspart bleibt – haute den jungen Mann nicht aus den Pantoffeln. Im Gegenteil – die Arbeit machte ihm so viel Spaß, dass er nach dem Zivildienst als Ehrenamtlicher dabei blieb und sich zum Rettungsassistenten ausbilden ließ. Als Student und später im Berufsleben – der Diplom-Psychologe und -Soziologe arbeitete viele Jahre als hauptamtlicher Betreuer beim Vormundschaftsgericht – blieb er dem Rettungsdienst treu.
Was er erlebte? Es würde Bücher füllen. 2001 etwa: Wiesbaden feierte Fastnacht, die Menschen jubelten ausgelassen dem Umzug zu – da fielen zwei Männer, die dem Treiben vom Fenster aus zugeschaut hatten, vom Sims und stürzten mehrere Meter in die Tiefe. Ein Reporter hielt die Szene, wie Rettungskräfte, unter ihnen Klaus Sandrock, einen der Schwerverletzten versorgten, auf einem Foto fest – es erschien in der Bild-Zeitung. „Da war ich für einen Tag berühmt“, schmunzelt der 71-Jährige.
Andere Einsätze waren weniger spektakulär, aber genauso dramatisch. Was hat sich verändert in den vergangenen 50 Jahren? Die Einrichtung der Rettungswagen habe sich von spartanisch zu Hightech verwandelt, sagt Sandrock. Und: Die Verletzungen nach Autounfällen sind heute oft schlimmer als vor 50 Jahren, obwohl die Fahrzeuge doch mit deutlich mehr (Sicherheits-)Technik ausgestattet sind. „Darauf verlassen sich die Leute halt und fahren viel zu schnell.“
Heute ist Klaus Sandrock verstärkt als Notfallseelsorger an Unfallstellen im Einsatz, oder er begleitet Polizisten, wenn eine Todesnachricht zu überbringen ist. Vor 20 Jahren hat er die entsprechende Ausbildung absolviert, damals noch in Wiesbaden; als er nach Nackenheim zog, war es für ihn klar, dass er sein Ehrenamt nicht aufgeben würde. Seit 2011 ist er für die Notfallseelsorge Mainz-Bingen unterwegs, in einem Einsatzgebiet von Hillesheim bis Bacharach.
Bei seinen Einsätzen trifft er auf Menschen in Ausnahmesituationen – weil sie zum Beispiel selbst in einen Unfall, ein Verbrechen verwickelt waren, oder weil sie, häufiger noch, ganz plötzlich einen Angehörigen verloren haben. Es ist schwer, Eltern sagen zu müssen, dass ihr Sohn, ihre Tochter nicht mehr am Leben ist. Doch dann für sie da zu sein in diesen ersten Stunden, ihnen zu helfen, das eigentlich Unbegreifliche zu begreifen, das ist Sandrocks Aufgabe. Was ihm dabei hilft? Sein Wissen als Diplom-Psychologe, das er natürlich einbringt, aber auch sein Glauben an Gott, der gerade den Schwächsten und Trauernden nah ist. „Ich dränge meinen Glauben niemandem auf“, sagt der 71-Jährige. „Aber viele freuen sich über ein Gebet, einen Segen.“
Die für ihn selbst belastendsten Einsätze sind „Schienen-Suizide“, sagt Klaus Sandrock. Wenn sich ein Mensch vor den Zug wirft, sei das für den Lokführer oft sehr schwer zu verkraften, weiß er. „Und von dem Menschen, der sich das Leben genommen hat, bleibt im Grunde nichts mehr übrig.“ Das mache es den Angehörigen schwer, Abschied zu nehmen. „Sie haben so oft das Bedürfnis, den Verstorbenen noch einmal zu sehen, zu berühren, zu begreifen – aber das ist dann meistens ausgeschlossen.“
Was trägt Klaus Sandrock in und nach solchen Diensten, die oft mehrere Stunden dauern? „Mein Glaube und der Rückhalt meiner Frau“, sagt er ohne Zögern. Immer wieder werde er auch mal gefragt, was er für seinen Einsatz bekomme, die Fragenden dürften Entlohnung oder doch zumindest Aufwandsentschädigungen im Sinn haben. „Ich erkläre dann immer, dass ich für die Stunde 60 Minuten bekomme“, lacht Sandrock. Was für ein schöner Gedanke: Sein Einsatz als Notfallseelsorger ist geschenkte Zeit – auch für ihn. Und die Dankbarkeit, sie ist ja kostbarer Lohn, und sie ist immer spürbar, sagt Klaus Sandrock. Unmittelbar nach einem Einsatz oder Jahre später, an einer Supermarktkasse.